M. Tamcke: Orientalische Christen und Europa

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Titel
Orientalische Christen und Europa. Kulturbegegnung zwischen Interferenz, Partizipation und Antizipation


Herausgeber
Tamcke, Martin
Reihe
Göttinger Orientforschungen Syriaca 41
Erschienen
Wiesbaden 2012: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
385 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Andreas Schmoller, Fachbereich Geschichte Zentrum zur Erforschung des Christlichen Ostens, Universität Salzburg

Der Titel dieses Sammelbandes klingt vielversprechend, da er eine konzeptionelle Schärfe durchscheinen lässt, gleichzeitig auch am Puls der Zeit, wenn man das in den letzten Jahren deutlich gewachsene öffentliche und politische Interesse in Europa bzw. im Westen für die orientalischen Christen vor Augen hat. Die Programmatik, Kulturbegegnung zwischen Orient und Okzident über das nahöstliche Christentum begrifflich auszuloten und in historischer Perspektive zu analysieren, kann jedoch wie der Herausgeber in seiner Einleitung selbst in bescheidenem Gestus andeutet, nicht eingelöst werden. «Wann es Europäisches abzustoßen galt, wann es anzueignen war und wo christlich-orientalisches Gedankengut sich mit dem europäischen berührte: diese Fragestellungen eröffnen Forschungsperspektiven», zu denen die versammelten Beiträge jedoch lediglich «ein buntes Mosaik» (X) anbieten können. Martin Tamcke, renommierter protestantischer Theologe auf dem Gebiet der orientalischen Kirchengeschichte und Professor für Ökumenische Theologie und Orientalische Kirchen- und Missionsgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen hat in diesem «bunten» Band, der auf eine in Göttingen stattfindende Tagung zurückgeht, rund 25 Beiträge versammelt, die sich auf alle Gebiete und Epochen der Oriens Christianus Forschung beziehen und hier nicht alle einzeln gewürdigt werden können.

Von den Beiträgen, die sich mit rezeptionsgeschichtlichen Fragen auseinandersetzen, sei Martin Heimgartners (Halle/ Saale) Untersuchung der Briefe des ostsyrischen Patriarchen Timotheos I (780−823) als Quelle und Zeuge für die arabische Rezeption aristotelischen Denkens angeführt. In zwei Religionsgesprächen − mit einem muslimischen Philosophen bzw. dem abbasidischen Kalifen al-Mahdi − «gibt er [Timotheos] Einblick, welche Rolle die aristotelische Logik und Dialektik im christlich-muslimischen Gespräch gespielt hat, wie sie gleichzeitig Verständigung zwischen den Religionen ermöglichte und unterschiedliche Identitäten bewusst machte.» (12)

Die im zweiten Abschnitt unter der Rubrik «Mission» zusammengefassten Aufsätze beziehen sich jeweils auf westliche bzw. protestantische Missionsprojekte Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Marburger Kirchenhistoriker Karl Pinggéra erschließt darin anhand einer Auswertung von zwei Vereinszeitschriften − dem «Nestorianer-Boten» und der «Liebesarbeit an den Nestorianern in Kurdistan» − divergierende protestantische Wahrnehmungen der ostsyrischen Christen in der Region des Hakkari-Berglandes, die bislang kaum von der missionsgeschichtlichen Forschung aufgegriffen worden sind. In der auf einzelne Beobachtungen sich beschränkenden Darstellung tritt das Diskursgerüst zeitgenössischer protestantischer bzw. westlicher Wahrnehmung des ostsyrischen Christentums zwischen den Polen «Objekt der Mission» und «würdige Schwesterkirche» angesiedelt im Rahmen von überpfarrlichen Kontroversen und persönlichen Animositäten, eindrücklich zutage. (61)

Die gemeinsame Klammer des unter dem Titel «Exploration» gefassten dritten Abschnittes des Bandes erschließt sich aufgrund der Heterogenität der einzelnen Aufsätze nicht. Für den an der primär an der Neueren Geschichte orientierten Rezensenten sticht der Beitrag des libanesischen Pastors Hadi Ghantous hervor, der die spezifischen Schwierigkeiten nahöstlicher Christen im Umgang mit dem Alten Testament diskutiert. Aus bibeltheologischer Sicht zeigt er dabei mögliche Alternativen zu einer auf dem politischen Kontext beruhenden weitgehenden Ablehnung des jüdischen Teils der Bibel auf. Er argumentiert dabei, das bleibt festzustellen, nicht aus einer politikfreien Position heraus: «The aim is to resist the claims and the policies of Israel which manipulate the Old Testament to justify continued occupation of Palestinian, Syrian and Lebanese territories.» (190) Für die orientalischen Christen gehe es, so Ghantous, neben anderen Faktoren, die eine von antijüdischen Ambitionen freien Rezeption des Alten Testaments ausmachen, um die besondere Nähe zu Welt, Kultur und Sprache des Alten Testaments, die aktiviert werden müsse.

Die beiden letzten Blöcke des Sammelbandes («Interaktion» bzw. «Koexistenz») enthalten gleich mehrere Beiträge des Herausgebers. Zwei davon befassen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem Konzept der Interkulturalität im Bereich der Gegenwartsliteratur. Unter dem Titel «Damaskus im Herzen, Deutschland im Blick» schildert Tamcke die Positionen zweier berühmter christlichorientalischer Schriftsteller, die vor dem Hintergrund des 11. Septembers 2001 in einem neuen – deutlich höheren – Spannungsfeld stehen. Bedauerlicherweise bleiben die Ausführungen sowohl zu Amin Maaloufs Konzept einer Doppel-Identität als auch zu Rafik Schami, der pointiert, Orient und Okzident in ihrer historischen und kulturellen Verbindung so nahe zusammenbringt, dass er den Identitätsdiskurs von gespaltenen Identitäten als «Geplapper» und «Schwachsinn» ablehnt, auf einige kursorische Anmerkungen beschränkt. Die behauptete Mediatorenrolle von orientalischen Christen in der Begegnung zwischen Orient und Okzident bleibt folglich wenig bestimmt, so dass man sich umso mehr eine detailliertere Analyse für die nahe Zukunft wünscht.

Im zweiten Beitrag thematisiert Tamcke wesentlich präziser die Frage der Fortsetzung religiöser Koexistenzstrukturen nach der Migration in den Westen auf Seiten der Muslime anhand zweier Roman-Beispiele von in Deutschland lebenden Literat/inn/en. Sowohl in Güner Yasemin Balcis Arabboy. Ein Jugend in Deutschland oder das kurze Leben des Rashid A. (2008) als auch in Hussain Al-Mozanys Mansur oder Der Duft des Abendlandes ortet Tamcke in der Beziehung zwischen aus den Ländern des Nahen Ostens migrierten Muslimen und Christen die «Fortführung kollektiver Verhaltensmuster, die im Orient erwuchsen, auf dem Boden Deutschlands» (367). Dabei handelt es sich keinesfalls um idealisierte Bilder friedlicher Koexistenz als vielmehr um diskriminierende Alltagsstereotype (Baci) oder um Projektionsflächen arabisch-muslimischer Sehnsüchte (Al-Mohany), die literarisch verdichtet werden.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass der besprochene Sammelband zweifelsohne eine große Heterogenität hinsichtlich der jeweiligen Untersuchungsgegenstände aufweist, jedoch auf der Ebene der Einzelbeiträge viele wichtige Bereiche der Forschungen zum orientalischen Christentum abdeckt und damit ganz in der Tradition der Reihe «Göttinger Orientforschungen – Syriaca» steht.

Zitierweise:
Andreas Schmoller: Rezension zu: Martin Tamcke (Hg.), Orientalische Christen und Europa. Kulturbegegnung zwischen Interferenz, Partizipation und Antizipation (= Göttinger Orientforschungen Syriaca 41), Wiesbaden, Harrassowitz, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 486-488.

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